Arthur Schnitzler: Therese, Chronik eines Frauenlebens (1928)

Manche von ihnen mochten wohl ihre persönlichen Erfahrungen haben, doch Therese fürchtete Spott, Indiskretion, Verrat. Sie wusste natürlich, dass es Mittel und Wege gäbe, ihr zu helfen, doch es war ihr auch nicht unbekannt, dass dergleichen mit Gefahren verbunden war, dass man krank werden, sterben oder auch in den Kerker kommen konnte.
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Sie gab sich eine letzte Frist von acht Tagen, um eine Nachricht von Kasimir zu erwarten. Während dieser Zeit fand sie in den Zerstreuungen des Landaufenthaltes immerhin einige trügerische Ablenkung und Zerstreuung.
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Immer tiefer empfand sie die Peinlichkeit ihres Zustandes und die Gefahr ihrer Lage. Zugleich war sie von der überzeugung durchdrungen, dass die meisten weiblichen Personen, die sie kannte, besonders aber manche ihrer Berufsgenossinnen, schon ähnliches durchgemacht wie sie und zur rechten Zeit Abhilfe zu schaffen gewusst hatten.
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Aber da sie sich scheute, eine direkte Frage an sie zu richten, erfuhr sie nichts, als was sie ohnehin schon wusste: dass es gefällige Frauen gab, auch Ärzte, die für dergleichen zu haben seien, und dass die Gefahren im allgemeinen nicht all zu groß waren.
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Das ganze war ein Zwischenfall, wie er sich im Leben mancher Frau ereignete, ohne weitere Spuren zu hinterlassen.
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Eines Nachmittags stieg sie in einem Haus der Inneren Stadt eine winkelige Treppe hinauf und sass wenige Minuten später einer freundlichen Dame von mittleren Jahren gegenüber, die von der Farbe der Fenstervorhänge in blass rötliches Licht gebadet war. Der behagliche, in der Art eines bürgerlichen Salons ausgestattete Raum ließ den Beruf der Mieterin in keiner Weise ahnen, und Therese brachte ohne Scheu, wenn auch mit einiger Vorsicht, ihr Anliegen vor. Die freundliche Dame erwähnte, dass vor kaum einer halben Stunde eine junge Baronesse in gleicher Angelegenheit bei ihr vorgesprochen habe, und zwar schon zum zweiten Mal in diesem Jahr. Sie erzählte weiters von ihrem vornehmen Kundenkreis, der sich bis in die allernächste Nähe des Hofes zu erstrecken schien, scherzte mild über den Leichtsinn der jungen Mädchen.
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Therese empfahl sich mit dem Bemerken, dass sie sich die Sache überlegen und morgen wiederkommen wolle. Als sie aus dem Tor trat, stand ein Herr da und musterte Therese von oben bis unten. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals hinauf, schon sah sie sich verhaftet, angeklagt, verurteilt, im Gefängnis - und erst als sie in der Menge untergetaucht war, beruhigte sie sich allmählich.
Diese erste Erfahrung entmutigte sie übrigens nicht, und schon am Abend darauf begab sie sich zu einer Frau, die gleichfalls in der Zeitung Damen Rat und Hilfe geboten hatte.
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"Also, womit kann ich dienen mein liebes Kind?" Therese drückte sich noch vorsichtiger aus, als sie es gestern getan; doch die Frau verstand sie ohne weiteres und frage sie einfach, wann sie die Wohnung bei ihr zu beziehen gedächte. Als sie aus Thereses Erwiderung entnahm, dass sie keineswegs plane, hier ihre Entbindung abzuwarten, wurde sie etwas steif und erklärte, dass sie sich zu dem, was Therese offenbar wünsche, nur in den seltensten Fällen zu entschließen pflege und nannte dann sofort einen Betrag, für den sie ausnahmsweise das Risiko auf sich zu nehmen bereit sei. Er war unerschwinglich für Therese.
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Der Zufall wollte überdies, dass eben wieder in der Zeitung von einem Prozess gegen einen Arzt wegen Verbrechens gegen das keimende Leben zu lesen war, und plötzlich war Therese völlig überzeugt davon, dass es ihr sicherer Tod wäre, wenn sie den gefürchteten Eingriff an sich vornehmen liesse.


Bildquelle: www.amazon.de (2008)