Dacia Maraini: Isolina, die zerstückelte Frau (1988)

Aus dem Inhalt

Verona, 16. Januar 1900.
Zwei Wäscherinnen finden im trüben Wasser einen Sack voller Menschenfleisch. Es ist der fachmännisch zerlegte Körper der neunzehnjährigen schwangeren Isolina Canuti. Nur der Kopf bleibt vorerst unauffindbar.
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Dacia Maraini rollt drei Generationen später in einer literarischen Dokumentation einen historischen Justizskandal wieder auf, der zu seiner Zeit als 'italienischer Dreyfus-Prozess' galt. Isolina Canuti, ein Mädchen aus den niederen Ständen, war von ihrem letzten Liebhaber, Carlo Trivulzio, einem Offizier aus feinster Udineser Familie, geschwängert worden, und sie hoffte mit dem Kind auf einen sozialen Aufstieg. An dem widerständigen jungen Mädchen war, so wurde später recherchiert, im Offizierscasino in Anwesenheit von Stabsärzten auf dem Esstisch mit einer Gabel eine Abtreibung vorgenommen worden, die tödlich endete....

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Zitate

Hier fragte der Besucher nach den Gerüchten, die über Isolina und die Trattoria und manche Offiziere so in Umlauf waren, und der Wirt erwiderte: "Was soll sein, in dem Zimmer hier isses passiert, das, was passiert is. Hab selbst Hand angelegt, hab ne Gabel gegriffen, und da is passiert, was passiert ist. Und dann hab ich se in'n andres Haus gebracht."
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Sie waren alle schon etwas angeschickert, da sagte einer: "Isolina, hier, du willst doch sowieso ne Abtreibung machen, leg dich gleich mal auf den Tisch." Isolina hat wohl gehorcht, weil sie so berauscht war, daß sie die Gefahr nicht mehr erkannt hat, und das hat wohl derjenige auch nicht, der zu ihr gesagt hat, sie soll sich auf den Tisch legen. Und dann haben sie ihr wohl eine Gabel in die Geärmutter gesteckt, und davon hat sie soche Schmerzen gehabt, daß sie gellend an zu schreien gefangen hat.
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Da hat dann der, der die ganze Operation ausgeführt hatte, oder einer von den anderen, die dabei waren, wohl eine Tischdecke gegriffen, und Isolina ist zum Verstummen gebracht worden. Der ganze Leib soll konvulsivisch gezuckt haben. Sie hatte doch bloß versucht, ihren Schmerzen Luft zu machen mit dem Schreien, die Ärmste. Aber das hätte sie ja alle verraten, die drumrumstanden und denen bloß eingefallen ist, daß sie selbst in Gefahr geraten könnten (wenn sie nämlich neben einer Frau mit einem blutüberströmten Bauch gefunden werden), und deshalb haben sie das Tischtuch nicht gleich wieder weggenommen. Sie haben es nicht mal gelüftet, als Isolina schon lange still war, als sie gemerkt haben müssen, daß eine tote vor ihnen lag. Und deshalb haben sie dann ausgeheckt, wie sie alle Spuren des Verbrechens, das da begangen worden war, tilgen konnten.
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Es kommt mir vor wie ein Entweihung, diese 1983 lebenden Finger, die hier herumstöbern, die in toten, fernen Papieren wühlen. Und da steht eine seltsame Eintragung: Am 17. Juli vermerkt das Sterberegister den Fund eines etwa viermonatigen Fötus männlichen Geschlechts. Er war aus dem Kanal der Papierfabrik Pedrigoni gefischt worden. Und wenn er nun Isolinas Sohn war, den man im Adige nie gefunden hatte?

Die einzelnen Teile von Isolinas Leiche wurden in verschiedenen Monaten, an verschiedenen Orten und von verschiedenen Leuten gefunden. Der Kopf erst nach zwölf Monaten. Warum sollte man den Fötus nicht erst nach sechs Monaten gefunden haben? Aber darüber scheint niemand je ein Wort verloren zu haben.



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