Jakob Michael Reinhold Lenz: Zerbin oder die neuere Philosophie (1776)

O Richter, Richter, habt Ihr die Gefühle eines jungen Mädchens je zu Rate gezogen, wenn ihr über ihre Tat zu sprechen hattet! Ahndet ihr, was das heißt, seine Schande einer andern entdecken, was für Überwindung das kostet, was für ein Kampf zwischen Tod und Leben in einer weiblichen Seele, die noch nicht schamlos geworden ist, da entstehen muß?
...
Sie wollte sich ihrem Schicksal überlassen, und das Schlimmste abwarten, ohne Zerbin oder irgend einem Menschen ein Wort davon zu sagen.- Die Taschen, die damals auch Personen geringen Standes durchgängig trugen, verhehlten ihren Zustand; kurz die Frucht ihrer verbotenen Vertraulichkeit kam, nach ihrem letzten Geständnis, tot auf die Welt. Nach den Gesetzen ist eine verhehlte Schwangerschaft allein hinlänglich, einer Weibsperson das Leben abzusprechen, wenn man auch keine Spur der Gewalttätigkeit an dem Kinde gewahr wird. Marie hatte das ihrige in der Geschwindigkeit ins Heu verbergen wollen.... Der Kutscher war in ihrer Abwesenheit auf den Heuboden gestiegen, den Pferden etwas Futter zu langen, und er war der erste Angeber des unglücklichen Mädchens.

Die grausame Stunde rückte heran. Man sprach noch immer in der Stadt davon, sie würde Gnade bekommen; bis zum letzten Augenblick, noch da ihr die Augen verbunden wurden, stand das Volk in dieser Erwartung; man konnte es nicht begreifen, nicht fassen, daß eine so liebenswürdige Gestalt unter Henkershänden umkommen sollte; der Prediger war nicht im Stande, ihr ein einziges Trostwort zuzusprechen -- vergeblich! Die Gesetze waren zu streng, der Fall zu deutlich; sie ward enthauptet.