Julian Marcuse: Geburtenregelung - Die Forderung der Zeit (1928)

§ 270 des RStG von 1925: Wer eine Sache, die zu unzüchtigem Gebrauch bestimmt ist, öffentlich ankündigt oder anpreist oder an einem allgemein zugänglichen Orte ausstellt, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Ebenso wird bestraft, wer in einer Sitte oder Anstand verletzenden Weise ein Mittel, Werkzeug oder Verfahren, das zur Verhütung von Geschlechtskrankheiten dient, öffentlich ankündigt, anpreist oder ein solches Mittel oder Werkzeug an einem allgemein zugänglichen Orte ausstellt.

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Die einen sehen die Ursachen in der Abkehr von der Religion, in der Verbreitung des Atheismus und der Sozialdemokratie, die anderen im Materialismus, der Leb‑ und Genußsucht der Zeit - ihre oberflächliche Wertung dieser Frage bedeutet höchstens ein Hemmnis sozialer Fortschritte die dritten in dem krassen Egoismus des rücksichtslosen Geldverdienens, der großstädtischen  Entwicklung und dem Überhandnehmen des Neumalthusianismus.

Mag auch eine Dosis Berechtigung in diesen letzteren Annahmen liegen, die ursäch­lichen Gründe stecken, wie wir gesehen haben, viel tiefer, nur die Außenfläche zeigt die Symptome, die ohne Vertiefung in die Frage für Gründe genommen werden.

Allen diesen Afterdiagnosen gemein ist die Kurmethode, sie ist die unblutigste und billigste, man braucht die soziale Frage nicht aufzurollen, die Begehrlichkeit der Massen nicht zu steigern, und kann sich außerdem noch in die Toga der Zionswacht und sittli­chen Reinheit hüllen, sie lautet kurzweg: Gesetzliches Verbot aller antikonzeptionellen Mittel, Polizei und Kadi gegen jede Anemp­fehlung des Gebrauches derselben. Das ist der Weisheit letzter Schluß, und wenn man noch einen sozialen Lappen umhängen hat, erwärmt man sich für ein bißchen mehr Säuglingsfürsorge und Wohnungsreform, für Steuerbegünstigungen für kinderreiche Fa­milien, staatliche Kinderzulagen und ähnliches mehr. So viel ist ungefähr herausgekommen bei den Erwägungen und Enqueten, die von Staats und Amts wegen gegenüber dem drohenden Gespenst des Geburtenrückganges von Zeit zu Zeit in die Wege geleitet werden.

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Bekanntlich hat Rußland als erster europäischer Staat die Abtreibung frei gegeben, die hierbei gemachten Erfahrungen sind, soweit sich dieselben bisher überblicken lassen folgende. Die Be­gründung, unter der dies 1920 erfolgte, lautete: "Es gilt den Abort aus der Sphäre des Verbotenen und Geheimen herauszuziehen, alle Strafmaßnahmen gegen Frauen abzuschaffen, die sich nur aus Not zum Abort entschließen und ihnen im Gegenteil die Möglich­keit zu gewähren, diese Operation unter den denkbar günstigsten hygienischen Bedingungen vornehmen zu lassen und alle scharfen Strafmaßnahmen nicht gegen die Frau, sondern gegen denjenigen zu richten, der aus ihrem Unglück für sich Kapital schlagen will und sich aus eigennützigen Motiven an ihrer Gesundheit vergreift."